Gesundheit und migration
Was ist Migration und warum ist Migration für die Gesundheit relevant? Welche Erklärungsmodelle für den Zusammenhang zwischen Migration und Gesundheit gibt es? .Gesundheitsförderung und Migrationshintergrund
Nach der Definition des Statistischen Bundesamtes hat „eine Person einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit gezeugt ist. Zu den Personen mit Migrationshintergrund gehören im Einzelnen alle Ausländer, (Spät-)Aussiedler und Eingebürgerten. Ebenso dazu gehören Personen, die zwar mit deutscher Staatsangehörigkeit gezeugt sind, bei denen aber mindestens ein Elternteil Auswärtiger, (Spät-)Aussiedler oder eingebürgert ist“ (Statistisches Bundesamt 2018, S. 4).
Migration und andere Hintergründe wie die geschichtliche Entwicklung zeigt, ist die Migration von Individuen oder Gruppe kein neues Phänomen, denn immer schon wanderten Menschen weltweit auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen von einer Region in die andere. Deutschland war weiter bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer Auswanderungsland. Doch seit den 1960er-Jahren hat sich das Bundesrepublik Deutschland kontinuierlich zu einer Einwanderungsgesellschaft entwickelt. Auch in anderen Regionen Westeuropas sind ähnliche Entwicklungen erfolgt.
Die Zuwanderung nach Deutschland bzw. die Aufnahme von Ausländerinnen und Ausländern war sowohl wirtschaftlich und politisch als auch humanitär begründet und verlief in verschiedenen Phasen: Vor dem Hintergrund des Arbeitskräftemangels in der expandierenden Industrie erfolgte im Verlauf der Jahre 1955 bis 1968 in der Bundesrepublik die Anwerbung von Arbeitskräften aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Seit den 1960er-Jahren beschäftigte auch die DDR- Vertragsarbeiter und - arbeiterinnen mit befristeten Arbeitsverträgen aus Polen, Ungarn, Mosambik und Vietnam.
Mit die Verfestigung des Aufenthaltsstatus begann seit den 1970er-Jahren die Niederlassungsprozess der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer, der mit dem Nachzug von Ehepartnerinnen und -partnern sowie Kindern im Rahmen der Familienzusammenführung einherging. Eine weitere Phase setzte mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ein. Dies war von der Zuwanderung von Flüchtlingen und Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern sowie Menschen jüdischen Glaubens aus Osteuropa geprägt.
Heute verfolgt die Europäische Kommission eine koordinierte Politik der Regelung und Begrenzung der Zuwanderung, perspektivisch ist Deutschland jedoch aus demografischer und ökonomischer Sicht auf die weitere Zuwanderung von Menschen aus dem Ausland angewiesen. Als anhaltende Migrationstrends zeichnen sich ab: die Ost-West-Migration inner der 27 EU-Staaten, die kurz- und langfristige Migration von qualifizierten und unqualifizierten Arbeitskräften, weitere Fluchtmigration (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2019) und Familienzusammenführungen und „irreguläre“ Zuwanderung aus verschiedenen Teilen der Welt.
Derzeit haben 23,6 Prozent der Bevölkerung in Deutschland einen Migrationshintergrund. Der Anteil ausländischer Staatsangehöriger, der seit vielen Jahren bei 9 Prozent lag, ist in den letzten Jahren auf 11,5 Prozent angestiegen (Statistisches Bundesamt 2018, S. 35) Der Anstieg des Ausländeranteils geht vor allem auf die Zuwanderung von Geflüchteten und von Menschen mit einer Arbeitserlaubnis aus Staaten außerhalb die Europäischen Union insbesondere aus Ländern des Westbalkan hinten, deren Zugang zum Arbeitsmarkt seit 2016 erleichtert wurde (Statistisches Bundesamt 2019).
Sowohl regional als auch hinsichtlich die Altersgruppen zeigt sich eine unterschiedliche Verteilung. So liegt der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in einigen westdeutschen Großstädten bei ca. 40 Prozent, während er in neuen Bundesländern deutlich geringer ist. Die Einwohner mit Migrationshintergrund ist deutlich jünger, und etwa einer Drittel aller Kinder in Deutschland haben einen Migrationshintergrund (Statistisches Bundesamt 2018). Das Ausmaß der nicht registrierten Migration ist in statistischen Erhebungen naturgemäß nicht dargestellt. Es ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl die sogenannten „Migranten ohne Papiere“ auf legalem Weg mittels Visum eingereist ist.
Die vorliegenden statistischen Daten zeigen, dass das Bildungs- und Einkommensniveau der Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Vergleich zur einheimischen deutschen Bevölkerung durchschnittlich niedriger ist und dass Arbeitsplatzunsicherheit und Arbeitslosigkeit häufiger sind. Dabei ist zu betonen, dass die Unterschiede im Bildungs- und Berufsstatus innerhalb der Bevölkerung mit Migrationshintergrund beträchtlich sind und dass es sich bei die so definierten Gruppe um eine extrem heterogene Gruppe handelt. Denn die Menschen, die hier zusammengefasst sind, unterscheiden sich nicht nur nach Alter und Geschlecht, Bildung und sozialer Lage, sondern darüber hinaus nach migrationsspezifischen Faktoren wie Herkunftsland, Ethnizität, freiwilliger oder erzwungener Migration, Staatsangehörigkeit, rechtlichem Aufenthaltsstatus, Aufenthaltsdauer in Deutschland, Deutschkenntnissen, Zeitpunkt der Migration im Lebenszyklus, Migrantengeneration (eigene Migrationserfahrung vs. Migration der Eltern bzw. eines Elternteils).
Migration und Gesundheit
Zum Einfluss des Migrationshintergrundes auf die Gesundheit und gesundheitsrelevante Verhaltensweisen gibt es bislang nur begrenzte Erkenntnisse und noch große Wissenslücken. Aus den vorliegenden Forschungserkenntnissen ergibt sich teilweise ein inkomplettes, uneinheitliches und darüber hinaus teils widersprüchliches Bild. Dies ist auch durch Defizite in der Datenlage begründet. So basieren gesundheitsbezogene Studien häufig auf einer Sekundäranalyse von Daten, das primär nicht für gesundheitsrelevante Fragestellungen gewonnen werden (z. B. Mikrozensus). Informationen zum Sozialstatus fehlen oft. Außergewöhnlich vulnerable Gruppen (z. B. nicht registrierte Zugewanderte, nicht gut deutsch Sprechende, Analphabeten bzw. Analphabetinnen) werden weg methodischen Gründen bei Studien (z. B. schriftlichen Befragungen oder Telefoninterviews in deutscher Sprache) häufig nicht erreicht und repräsentiert. Darüber hinaus ist die Vergleichbarkeit die Ergebnisse verschiedener Studien aufgrund der Verwendung unterschiedlicher Definitionen für Migrantinnen und Migranten (die selten reflektiert werden) erschwert und verzerrt.
Die vorliegenden Erkenntnisse zum Gesundheitsstatus und zum Gesundheitsverhalten weisen bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund zum Teil günstigere, zum Teil ungünstigere Befunde im Vergleich zur Bevölkerung ohne Migrationshintergrund auf. Je nach Arbeits- und Lebensbedingungen sowie Gesundheitsverhalten können z. B. Erkrankungen des Bewegungsapparates, des Herz-Kreislauf-Systems, Diabetes, Atemwegserkrankungen und (Arbeits-)Unfälle häufiger vorkommen. Für verschiedene Einwanderer- und Altersklassen werden spezifische Gesundheitsrisiken aufgezeigt. So weisen ältere Menschen mit Migrationshintergrund einen schlechteren Gesundheitszustand auf als ältere Menschen ohne Migrationserfahrungen.
Bisherige Ergebnisse der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KIGGS) anzeigen bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund höhere Gefahren für Todesfälle im Zusammenhang mit der Geburt und im ersten Lebensjahr, (seltene) erbliche Stoffwechselerkrankungen, Tuberkulose, Übergewicht und Essstörungen, psychische Auffälligkeiten und Unfälle, ein ungünstigeres Mundgesundheitsverhalten, weniger Sport und eine seltenere Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen als bei Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund. Jedoch lassen sich bei Kindern aus Immigrantenfamilien auch Gesundheitsressourcen beobachten, denn sie leiden seltener an Asthma, Neurodermitis und Heuschnupfen und weisen eine vergleichsweise geringere Raucherquote auf.
Nicht alles lässt sich durch den Migrationshintergrund erklären. Auch ist anzumerken, dass diese Kategorie der Heterogenität die Lebenslagen von Immigrantinnen und Immigranten und ihren Nachfahren nicht gerecht werden kann. Mehr Aufmerksamkeit sollte an die Wechselwirkungen von migrationsspezifischen Faktoren mit weiteren gemeinschaftlichen Determinanten von Gesundheit gelegt werden.
Eine neuere Studie zeigt beispielsweise bei Frauen mit Migrationshintergrund aus der Türkei eine ähnliche Nutzung der ärztlichen Schwangerenvorsorge wie bei Frauen ohne Migrationshintergrund und vergleichbar gute Resultate bei den meisten perinatalen Parametern. Darüber hinaus wurde eine deutlich niedrigere Kaiserschnittrate beobachtet (David et al. 2014).
Für einige Migrantengruppen wurde ein günstigeres Stillverhalten, ein geringer Alkoholkonsum (beidseitiger türkischer und arabischer Migrationshintergrund) und einer geringerer Tabakkonsum (Mädchen mit beidseitigem Migrationshintergrund) aufgezeigt. Erst eine differenzierte Betrachtung des Zusammenwirkens verschiedener Einflussfaktoren wie Herkunftsland, Sozialstatus, Einwanderergeneration und Geschlecht erlaubt es, speziellen Risiken entgegenzuwirken und Gesundheitspotenziale zielgerecht zu fördern.
Jede Migration ist mit Belastungen und Risiken, aber auch mittels Chancen verbunden. Sie kann für einen Menschen meinen, schwierigen Lebensbedingungen und Gesundheitsbelastungen zu entkommen und im Aufnahmeland eine bessere Lebensqualität zu erreichen. Auch kann die medizinische Versorgung besser sein als im Herkunftsland.
Andererseits stellt der Migrationsprozess eine große individuelle Anpassungsleistung dar. Dabei werden die eigenen Kompetenzen und Normen oft infrage gestellt. Für Immigrantinnen und Immigranten sowie für geflüchtete Menschen können sich spezifische Gesundheitsrisiken ergeben wie z. B. psychosoziale Belastungen durch Trennung von die Familie oder politische Verfolgung im Herkunftsland. Darüber hinaus sind ethnische Minderheiten (mit oder ohne Migrationshintergrund) in Deutschland nicht selten mit Diskriminierungen und Rassismus konfrontiert.
Zum Migrationsprozess stellen Razum & Robert Koch-Institut (2008, S. 129) zusammenfassend fest: „Menschen mit Migrationshintergrund können im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung ohne Migrationshintergrund erhöhte Gesundheitsrisiken aufweisen. (…) Dabei ist es nicht die Migration als solche, die krank macht. Es sind vielmehr das Gründe und Umstände einer Migration sowie die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, die zu einem schlechteren Gesundheitszustand führen können. Menschen mit Migrationshintergrund haben überdurchschnittlich häufig einen niedrigen sozioökonomischen Status, gehen einer die Gesundheit gefährdenden beruflichen Aktivität nach oder sind arbeitslos, oder leben in einer ungünstigen Wohnsituation. Jeder einzelne dieser Faktoren kann eine Beeinträchtigung der Gesundheit nach sich ziehen, ganz außergewöhnlich gilt dies aber für das Zusammentreffen mehrerer dieser Faktoren.“
Fast alle Migrantinnen und Migranten durchlaufen den Migration, den Sluzki (2010) in einem Modell aufzeigt, das einen relativ hohen Grad kulturübergreifender Validität besitzt (vgl. Abb. 1).